Das Herz, das sich selbst heilt? Eine neue Studie zeigt, dass sich erwachsene menschliche Herzmuskelzellen wieder teilen können
- Leon Wirz

- 1. Dez.
- 5 Min. Lesezeit
Basierend auf einer Studie veröffentlicht in npj Regenerative Medicine (2025), Icahn School of Medicine

Einleitung
Seit Jahrzehnten lebt die Kardiologie mit einer frustrierenden Wahrheit: Sobald das menschliche Herz geschädigt ist, kann es sich kaum selbst reparieren. Nach einem Herzinfarkt sterben Millionen von Kardiomyozyten, und statt sich zu regenerieren, vernarbt das Gewebe. Dieser fehlende Regenerationsmechanismus ist einer der Hauptgründe dafür, dass Herzinsuffizienz so häufig ist – und für Gesundheitssysteme, auch in der Schweiz, extrem kostspielig bleibt. Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen dort jedes Jahr Milliardenkosten.
Eine neue Studie stellt diese lang gehegte Annahme infrage. Forschende an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai berichten, dass erwachsene menschliche Kardiomyozyten (sogar von Menschen in ihren 40ern und 50ern) wieder zur Teilung angeregt werden können. Der Schlüssel dafür ist die Reaktivierung eines Gens namens Cyclin A2 (CCNA2), das normalerweise kurz nach der Geburt abgeschaltet wird.
Sollten sich diese Ergebnisse in der klinischen Anwendung bestätigen, hätte dies tiefgreifende Auswirkungen für Medizin, Versicherungen und Patientinnen und Patienten.
Die zentrale Entdeckung
Der wichtigste Befund der Studie ist einfach, aber revolutionär: Durch die Wiedereinführung von Cyclin A2 in erwachsene menschliche Kardiomyozyten treten diese Zellen erneut in den Zellzyklus ein und durchlaufen vollständige Zytokinese – das bedeutet, sie teilen sich in zwei vollständig ausgebildete Tochterzellen.
Dies ist keine teilweise Aktivität oder unvollständige DNA-Replikation. Es handelt sich um echte Teilung reifer Herzmuskelzellen, live unter dem Mikroskop aufgezeichnet.
Noch wichtiger ist, dass diese Tochterzellen wesentliche Eigenschaften gesunder Kardiomyozyten beibehalten, darunter intakte Sarkomerstrukturen und eine korrekte Calcium-Signalleitung. Dies legt nahe, dass die geteilten Zellen nicht nur lebensfähig sind, sondern möglicherweise auch funktional nutzbar.
Wie die Studie durchgeführt wurde
Um eine präzise und sichere Abgabe von CCNA2 zu gewährleisten, konstruierten die Forschenden einen kardialspezifischen Adenovirus-Vektor, der den Promotor des kardialen Troponin T (cTnT) nutzt. Dadurch wird sichergestellt, dass das Gen ausschließlich in Kardiomyozyten aktiviert wird, was das Risiko von Effekten in anderen Geweben minimiert. (Das Design des Vektors ist auf Seite 3 dargestellt.)
Das Team erhielt menschliche Kardiomyozyten von Spendern im Alter von 21, 41 und 55 Jahren. Diese Zellen wurden in Kultur lebend gehalten, mit dem CCNA2-Vektor transduziert und über mehrere Tage beobachtet. Die zeitauflösende Fluoreszenzmikroskopie lieferte direkten Nachweis von Zellteilungen, besonders in den Proben der 41- und 55-Jährigen. (Bilder auf den Seiten 3–4 zeigen die Zytokinese live.)
Nach der Teilung testeten die Forschenden, ob die Tochterzellen sich wie echte Kardiomyozyten verhielten. Dazu wurden sie in einer 3D-Matrix kultiviert und ihre Calcium-Flüsse aufgezeichnet – ein wichtiges Merkmal elektrischer Aktivität. Die durch CCNA2 induzierten Tochterzellen bestanden diesen Funktionstest. (Die entsprechenden Calcium-Flussmuster sind auf Seite 4 dargestellt.)
Um die zugrunde liegenden molekularen Veränderungen zu verstehen, führten die Forschenden Tiefensequenzierungen an menschlichen und murinen Proben durch. Dazu gehörten Bulk-RNA-Sequenzierungen von fetalen und adulten menschlichen Herzen sowie Single-Nucleus-RNA-Sequenzierungen (snRNA-seq) von Mäuseherzen. Die Sequenzierungen zeigten eine klare Verschiebung hin zu einem mehr „fetalen“, regenerativen Transkriptionsprogramm – allerdings ohne vollständige Dedifferenzierung. Mit anderen Worten: Die Zellen werden nur so flexibel, wie es für die Teilung notwendig ist, behalten aber ihre Identität. (Relevante Karten und Heatmaps finden sich auf den Seiten 5–7.)
Zentrale Ergebnisse
Das beeindruckendste Ergebnis ist, dass erwachsene menschliche Kardiomyozyten ihre Fähigkeit zur Teilung wiedererlangen können, selbst Jahrzehnte nachdem diese Fähigkeit normalerweise abgeschaltet wird. Dies widerspricht der etablierten Annahme, dass Herzmuskelzellen nach der frühen Kindheit dauerhaft postmitotisch sind.
Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass Cyclin A2 die Zellen nicht einfach zu einer unkontrollierten Proliferation zwingt. Stattdessen aktiviert das Gen eine kontrollierte, entwicklungsbiologisch relevante Reaktivierung von Zellzykluswegen. In der Einzelzell-Analyse wurde eine spezifische Subpopulation von Kardiomyozyten identifiziert (Pro-vCM10), die besonders stark auf CCNA2 reagiert. Diese Zellen exprimieren hohe Mengen an Mitosemarkern wie Mki67, Aurkb, Anln und Kif23 sowie klassische Reprogrammierungs- und Entwicklungsfaktoren wie Gata4 und Sox2. (Siehe Seiten 6–8.)
Ebenso wichtig ist, was nicht passiert: Cyclin A2 löst keine pathologische Hypertrophie oder Fibrosewege aus. Beim Vergleich der CCNA2-induzierten Transkriptionsmuster mit denen von Herzen unter Drucküberlastung (ein Modell für Erkrankungen) waren die Unterschiede deutlich. Hypertrophe Herzen aktivieren Stress- und Fibroseprogramme. CCNA2-Herzen aktivieren Zytokinese und Regeneration.
Diese Unterscheidung ist entscheidend, weil sie darauf hindeutet, dass Cyclin A2 mit der Biologie des Herzens arbeitet, nicht gegen sie.
Limitationen der Studie
Trotz des vielversprechenden Ansatzes müssen mehrere Einschränkungen berücksichtigt werden. Die Experimente wurden in vitro, also außerhalb des Körpers, durchgeführt. Kardiomyozyten in Kultur bilden nicht die komplexe Umgebung eines schlagenden Herzens ab. Zudem sind frisch isolierte menschliche Herzmuskelzellen fragil und möglicherweise anfällig für kulturbedingte Verhaltensänderungen.
Adenovirus-Vektoren, obwohl in der Forschung weit verbreitet, können bei Patientinnen und Patienten Immunreaktionen hervorrufen. Für klinische Anwendungen werden vermutlich verfeinerte Abgabesysteme benötigt, beispielsweise AAVs, Lipidnanopartikel oder mRNA-basierte Ansätze.
Schließlich zeigt die Studie bisher nur die Machbarkeit, nicht jedoch die therapeutische Wirksamkeit. Dass Kardiomyozyten sich teilen können, ist ein wichtiger erster Schritt. Doch um ein verletztes Herz wirklich zu reparieren, muss gezeigt werden, dass diese Zellen integrieren, langfristig überleben und die Herzfunktion verbessern.
Bedeutung für die Schweiz
Das Schweizer Gesundheitssystem steht bereits heute unter Druck durch steigende Kosten chronischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Allein Herzinsuffizienz führt zu häufigen Hospitalisationen, langen Rehabilitationszeiten, Produktivitätsverlusten und teurer Dauermedikation im Rahmen von KVG/LAMal.
Eine erfolgreiche Gentherapie, die Herzgewebe regeneriert, könnte die Kostenstruktur grundlegend verändern:
weniger lebenslange Hospitalisationen aufgrund von Herzinsuffizienz,
geringerer Bedarf an Geräten, invasiven Eingriffen und Transplantationen,
reduzierter chronischer Medikamentenbedarf,
mehr langfristige Unabhängigkeit für Patientinnen und Patienten.
Für Versicherer wäre dies ein signifikanter Wandel: hohe Anfangskosten, aber deutlich niedrigere Langzeitkosten. Für die Schweizer Biotechindustrie passt diese Forschung perfekt zur zunehmenden Fokussierung auf Regenerationsmedizin, Gentherapie und präzise Abgabetechnologien.
Potenzielle Auswirkungen einer erfolgreichen Therapie
Eine Therapie auf Basis von CCNA2 würde eine neue Ära der Kardiologie einläuten. Statt Symptome zu behandeln, könnten Ärztinnen und Ärzte das geschädigte Myokard gezielt wiederherstellen. Patientinnen und Patienten könnten nach einem Herzinfarkt Herzfunktion zurückgewinnen und möglicherweise jahrelange Verschlechterungen vermeiden. Gesundheitssysteme könnten vom Modell der chronischen Therapie zu einmaligen regenerativen Behandlungen wechseln, die anhaltenden Nutzen bieten.
Auch der Druck auf Transplantationsprogramme könnte sinken, da weniger Patientinnen und Patienten auf Spenderherzen angewiesen wären. Regenerative Therapien würden Transplantationen nicht vollständig ersetzen, aber die Nachfrage deutlich reduzieren.
Risiken
Gentherapien, die in den Zellzyklus eingreifen, bergen grundsätzlich Risiken. Unkontrollierte Proliferation muss unbedingt verhindert werden, und selbst wenige Off-Target-Effekte könnten schwerwiegende Konsequenzen haben. Auch Immunreaktionen auf den viralen Vektor und potenzielle Arrhythmien durch unreife Kardiomyozyten müssen sorgfältig untersucht werden.
Diese Risiken bedeuten nicht, dass der Ansatz ungeeignet wäre. Sie zeigen vielmehr, dass eine sorgfältige präklinische und klinische Entwicklung unerlässlich ist.
Gesamtbeurteilung
Diese Studie gehört zu den spannendsten Fortschritten in der kardialen Regenerationsforschung. Sie liefert direkten visuellen und molekularen Beweis dafür, dass erwachsene menschliche Kardiomyozyten nicht irreversibel aus dem Zellzyklus ausgeschieden sind. Durch die gezielte Reaktivierung von Cyclin A2 können sich diese Zellen wieder teilen – sauber, sicher und unter Erhalt zentraler Herzfunktionen.
Die Befunde sind grundlegend, aber noch nicht klinisch. Dennoch erweitern sie das Verständnis dessen, was biologisch möglich ist. Für die Regenerationsmedizin ist dies ein Meilenstein. Für Gesundheitssysteme wie das Schweizerische zeichnet sich eine Zukunft ab, in der Herzbehandlung auch bedeutet, das Herz neu aufzubauen.
Wie geht es weiter?
Künftige Forschung muss mehrere entscheidende Fragen klären:Wie kann CCNA2 sicher in das menschliche Herz eingebracht werden? Welche Patientengruppen profitieren am meisten? Können die proliferierenden Kardiomyozyten integrieren und langfristig zur Herzfunktion beitragen?
Die Entwicklung präziser Genabgabemethoden, die Identifikation der am besten ansprechenden Kardiomyozyten-Subpopulationen und kontrollierte In-vivo-Studien werden dabei entscheidende Schritte sein. Wenn diese erfolgreich sind, könnten in den nächsten Jahren klinische Studien folgen.
Referenz
Bouhamida, E., Vadakke-Madathil, S., Mathiyalagan, P. et al. Cyclin A2 induces cytokinesis in human adult cardiomyocytes and drives reprogramming in mice. npj Regen Med 10, 47 (2025). Link




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