Früh einsetzender Typ-2-Diabetes: Warum eine Diagnose vor dem 40. Lebensjahr das Krankheitsrisiko grundlegend verändert
- Leon Wirz

- vor 1 Tag
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The Lancet (Juni 2025) | Universiti Malaya, Imperial College London, Harvard Medical School, Baker Heart and Diabetes Institute sowie internationale Kooperationspartner

Einleitung
Typ-2-Diabetes galt lange als Erkrankung des mittleren und höheren Lebensalters. Diese Annahme ist in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend nicht mehr haltbar. Ein wachsender Anteil der Diagnosen betrifft heute Menschen unter 40 Jahren – ein Krankheitsbild, das als früh einsetzender Typ-2-Diabetes bezeichnet wird.
Diese Verschiebung ist mehr als nur eine zeitliche Vorverlagerung. Eine 2025 veröffentlichte Übersichtsarbeit im Lancet zeigt, dass früh einsetzender Typ-2-Diabetes einen eigenständigen und aggressiveren Krankheitsverlauf darstellt, der mit früheren Komplikationen, einem höheren lebenslangen Risiko und einer deutlich verkürzten Lebenserwartung einhergeht im Vergleich zu später diagnostiziertem Typ-2-Diabetes.
Die zentrale Erkenntnis
Die zentrale Erkenntnis der Studie lautet, dass früh einsetzender Typ-2-Diabetes ein Hochrisiko-Phänotyp ist. Personen, die in jungen Jahren diagnostiziert werden, erleben eine schnellere Krankheitsprogression, entwickeln früher Komplikationen und verlieren mehr Lebensjahre als Personen mit späterer Diagnose.
Wichtig ist dabei, dass dieses erhöhte Risiko nicht allein durch die längere Krankheitsdauer erklärt werden kann. Das junge Alter zum Zeitpunkt der Diagnose verstärkt die langfristigen schädlichen Effekte chronisch erhöhter Blutzuckerwerte, insbesondere in Kombination mit Adipositas, Insulinresistenz, kardiometabolischen Risikofaktoren und sozialen Einflussfaktoren. Das Ergebnis ist eine Krankheitslast, die sich über Jahrzehnte aufbaut.
Studiendesign und Methodik
Der Artikel ist der zweite Teil einer dreiteiligen Lancet-Serie zum früh einsetzenden Typ-2-Diabetes. Die Autorinnen und Autoren führten eine umfassende Zusammenführung der Evidenz aus großen populationsbasierten Kohortenstudien, nationalen Diabetesregistern und Langzeitbeobachtungen aus Europa, Nordamerika, Asien und Australien durch.
In die Analyse flossen Daten aus etablierten Studien wie TODAY, SEARCH und UKPDS sowie aus aktuellen Registerstudien ein, die mikro- und makrovaskuläre Komplikationen, reproduktive Gesundheit, Lebererkrankungen, Krebsrisiken, psychische Gesundheit, Hospitalisationen und Mortalität untersuchten. Berücksichtigt wurden Studien bis März 2025, wodurch eine lebensverlaufsorientierte Betrachtung des Krankheitsgeschehens möglich wurde.
Zentrale Ergebnisse
Früh einsetzender Typ-2-Diabetes ist durch eine beschleunigte biologische Verschlechterung gekennzeichnet. Die Funktion der insulinproduzierenden Betazellen nimmt schneller ab als bei später einsetzendem Diabetes, was zu einem früheren Verlust der Blutzuckerkontrolle und einer geringeren Dauerhaftigkeit medikamentöser Therapien führt. Betroffene sind dadurch über einen deutlich längeren Lebensabschnitt erhöhten Blutzuckerwerten ausgesetzt.
Diese langfristige Belastung führt zu früheren und häufigeren Komplikationen. Mikrovaskuläre Schäden an Nieren, Augen und peripheren Nerven treten früher nach Diagnosestellung auf und schreiten aggressiver voran als sowohl bei Typ-1-Diabetes als auch bei später einsetzendem Typ-2-Diabetes. In einigen Jugendkohorten hatte die Mehrheit der Betroffenen bereits Mitte zwanzig mindestens eine mikrovaskuläre Komplikation entwickelt.
Auch das kardiovaskuläre Risiko akkumuliert früher. Obwohl Herzinfarkte und Schlaganfälle typischerweise im höheren Alter auftreten, tragen Menschen mit früh einsetzendem Typ-2-Diabetes ein höheres lebenslanges Risiko, selbst nach Berücksichtigung der Krankheitsdauer. Jedes Jahr, um das die Diagnose früher erfolgt, ist mit einem messbaren Anstieg zukünftiger kardiovaskulärer Ereignisse verbunden.
Die Mortalitätsdaten zeigen eine klare Abstufung. Pro Jahrzehnt früherer Diagnose reduziert sich die Lebenserwartung um etwa drei bis vier Jahre. Eine Diagnose um das 30. Lebensjahr geht mit einem Verlust von rund 14 Lebensjahren im Vergleich zu Personen ohne Diabetes einher. Dies ist ein Ausmaß, das mit mehreren früh einsetzenden Krebserkrankungen vergleichbar ist.
Über die klassischen Komplikationen hinaus wird früh einsetzender Typ-2-Diabetes zunehmend mit ungünstigen Schwangerschaftsausgängen, metabolisch assoziierter Fettlebererkrankung, erhöhtem Krebsrisiko und einer erheblichen psychischen Belastung in Verbindung gebracht. Viele Betroffene entwickeln mehrere chronische Erkrankungen bereits im erwerbsfähigen Alter, was die klinischen und sozialen Folgen zusätzlich verstärkt.
Limitationen der Studie
Die Autorinnen und Autoren weisen auf mehrere Einschränkungen hin. Die Definition von früh einsetzendem Typ-2-Diabetes ist zwischen Studien nicht einheitlich, was Vergleiche erschwert. Ein Großteil der Evidenz basiert auf Beobachtungsstudien, wodurch kausale Schlussfolgerungen begrenzt sind. Einige Komplikationen, insbesondere Lebererkrankungen und psychische Störungen, werden wahrscheinlich unterdiagnostiziert. Zudem fehlen aus einkommensschwächeren Regionen weiterhin umfassende Daten, obwohl dort die Inzidenz stark ansteigt.
Diese Lücken verdeutlichen den Bedarf an standardisierten Definitionen und langfristigen prospektiven Studien mit frühem Studienbeginn.
Bedeutung für die Schweiz
Für die Schweiz stellt früh einsetzender Typ-2-Diabetes eine strukturelle Langzeitproblematik dar und kein randständiges klinisches Phänomen. Trotz eines gut ausgebauten und finanziell starken Gesundheitssystems trifft diese Erkrankung auf Versorgungsmodelle, die primär auf Krankheiten im höheren Lebensalter ausgerichtet sind.
Wenn Diabetes bereits in den Zwanzigern oder Dreißigern auftritt, entwickeln sich Komplikationen häufig während der wirtschaftlich produktivsten Lebensphase. Dies hat Auswirkungen weit über die direkten Gesundheitskosten hinaus und betrifft Erwerbsfähigkeit, Invaliditätsrisiken sowie die Sozialversicherungen. Chronische Nierenerkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen und psychische Störungen, die Jahrzehnte früher auftreten als erwartet, erhöhen die kumulativen lebenslangen Kosten für die obligatorische Krankenversicherung und Zusatzversicherungen erheblich.
Aus Sicht der Versicherer verschiebt früh einsetzender Typ-2-Diabetes Risiken von kurzfristigen hin zu sehr langfristigen Zeiträumen. Eine Person mit Diagnose im Alter von 30 Jahren benötigt möglicherweise über 40 bis 50 Jahre eine komplexe, multidisziplinäre Betreuung. Dies stellt versicherungsmathematische Annahmen, Disease-Management-Programme und Präventionsstrategien infrage, die traditionell auf ältere Bevölkerungsgruppen fokussiert sind.
Für die Schweiz unterstreichen die Ergebnisse die Bedeutung von früher Prävention, früher Diagnostik und integrierten Versorgungspfaden, die Hausärzt*innen, Endokrinologie, psychische Gesundheitsdienste und Lebensstilinterventionen systematisch verbinden. Ohne solche Anpassungen droht früh einsetzender Typ-2-Diabetes zu einem stillen Treiber der zunehmenden chronischen Krankheitslast zu werden – selbst in einem ansonsten leistungsfähigen Gesundheitssystem.
Potenzielle Auswirkungen einer erfolgreichen Therapie
Könnte früh einsetzender Typ-2-Diabetes durch frühe, konsequente und integrierte Interventionen wirksam kontrolliert werden, wären die potenziellen Effekte erheblich. Dazu zählen eine Verzögerung oder Vermeidung mikro- und makrovaskulärer Komplikationen, der Erhalt von Lebensqualität und Lebenserwartung sowie eine Reduktion langfristiger Gesundheits- und Sozialkosten.
Die Studie betont, dass die frühe Diagnose ein entscheidendes Zeitfenster darstellt, in dem Krankheitsverläufe noch nachhaltig beeinflusst werden können.
Risiken
Ohne angepasste Versorgungsmodelle birgt früh einsetzender Typ-2-Diabetes erhebliche Risiken. Ein zentrales Problem ist die sogenannte therapeutische Inertie. Damit ist gemeint, dass Behandlungen nicht rechtzeitig angepasst oder intensiviert werden, obwohl Krankheitswerte wie Blutzucker, Blutdruck oder Cholesterin klar über den Zielbereichen liegen.
Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass zu lange abgewartet wird. Junge Betroffene fühlen sich häufig noch relativ gesund und nehmen Kontrolltermine seltener wahr. Behandelnde Fachpersonen zögern mitunter, Therapien frühzeitig zu verschärfen. Zusätzlich fehlen in vielen Gesundheitssystemen klare Behandlungsstrategien für aggressive Krankheitsverläufe bei jungen Erwachsenen.
Dieses Abwarten ermöglicht es der Erkrankung, über Jahre hinweg stillen Schaden anzurichten. Wenn Komplikationen schließlich klinisch sichtbar werden, sind präventive Handlungsspielräume oft bereits ausgeschöpft. In Kombination mit psychischer Belastung, konkurrierenden Lebensanforderungen und fragmentierter Versorgung kann therapeutische Inertie Betroffene in irreversible Krankheitsverläufe führen.
Gesamtbewertung
Diese Lancet-Arbeit etabliert früh einsetzenden Typ-2-Diabetes eindeutig als eigenständigen und aggressiveren Krankheitsphänotyp und nicht lediglich als eine frühere Form des klassischen Typ-2-Diabetes. Die Evidenz spricht für einen Paradigmenwechsel hin zu früheren, umfassenderen und ganzheitlichen Behandlungsansätzen, die Stoffwechselkontrolle, kardiovaskuläre Risiken, psychische Gesundheit, reproduktive Aspekte und soziale Einflussfaktoren gleichzeitig berücksichtigen.
Ausblick
Die Autorinnen und Autoren fordern standardisierte Definitionen, langfristige prospektive Kohorten ab dem Jugendalter sowie präzisionsmedizinische Ansätze mit tiefem Phänotyping und Multi-Omics-Analysen. Zudem wird die Entwicklung spezifischer Versorgungsmodelle für jüngere Erwachsene sowie bevölkerungsbasierter Präventionsstrategien gegen Adipositas, Urbanisierung und soziale Ungleichheit betont.
Früh einsetzender Typ-2-Diabetes wird nicht als unvermeidbares Schicksal dargestellt, sondern als veränderbarer Krankheitsverlauf, sofern früh genug gehandelt wird.
Referenz
Understanding the drivers and consequences of early-onset type 2 diabetes
Lim, Lee-Ling et al.
The Lancet, Volume 405, Issue 10497, 2327 - 2340 Link




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