top of page

Die geheime Form der Süsse: Im Inneren des menschlichen Zuckerrezeptors

  • Autorenbild: Leon Wirz
    Leon Wirz
  • 10. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 9 Stunden

Veröffentlicht in Nature (2025), Columbia University & St. Jude Children’s Research Hospital

ree

Einleitung

Süße ist eine der grundlegendsten Empfindungen im menschlichen Leben. Sie signalisiert Energie, Sicherheit und Wohlbefinden – hat sich in modernen Gesellschaften jedoch zu einem zentralen Faktor für Krankheitsrisiken entwickelt. Ein übermässiger Zuckerkonsum ist ein wesentlicher Risikofaktor für Adipositas, metabolisches Syndrom und Typ-2-Diabetes. Diese Erkrankungen verursachen weltweit einen wachsenden Anteil der Gesundheitskosten.

Obwohl der menschliche Süßrezeptor bereits vor rund zwanzig Jahren identifiziert wurde, blieb seine genaue Struktur und Funktionsweise bislang unklar.Ein besseres Verständnis auf molekularer Ebene könnte den Weg zu neuen Zuckeralternativen eröffnen, die den Geschmack erhalten, ohne den Stoffwechsel zu überlasten. Ein Forschungsteam der Columbia University und des St. Jude Children’s Research Hospital hat dieses Ziel nun erreicht: Zum ersten Mal wurde die Struktur des Rezeptors mit nahezu atomarer Auflösung entschlüsselt.

Die zentrale Entdeckung

Der Rezeptor, der für die Wahrnehmung von Süße verantwortlich ist, besteht aus zwei Untereinheiten: TAS1R2 und TAS1R3. Gemeinsam bilden sie auf der Oberfläche von Geschmackszellen einen Komplex, der Zucker- und Süßstoffmoleküle erkennt und bindet.Die Studie zeigt, wie diese Moleküle mit dem Rezeptor interagieren, wie sie ihn aktivieren und warum unterschiedliche Substanzen (etwa Glukose, Saccharose, Aspartam oder Sucralose) jeweils andere Geschmackseindrücke hervorrufen.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass der Süßrezeptor kein einfaches Ein-/Aus-System ist. Er kann mehrere Strukturen annehmen und zwischen inaktiven, teilweise aktiven und vollständig aktiven Zuständen wechseln. Jeder Süßstoff stabilisiert dabei eine etwas andere Form des Rezeptors, was erklärt, warum Süße unterschiedlich intensiv, langanhaltend oder mit Nachgeschmack wahrgenommen wird.

Wie die Studie durchgeführt wurde

Zur Visualisierung des Rezeptors nutzte das Team die Kryo-Elektronenmikroskopie (cryo-EM) (eine Methode, bei der biologische Moleküle bei extrem niedrigen Temperaturen eingefroren und anschließend mit Elektronenstrahlen abgebildet werden). Im Gegensatz zur Röntgenkristallographie erfordert cryo-EM keine Kristallbildung und ermöglicht die Beobachtung flexibler Proteine in verschiedenen Zuständen.

Die Forschenden reinigten den TAS1R2-TAS1R3-Komplex, betteten ihn in eine membranähnliche Umgebung ein, um seine natürliche Struktur zu erhalten, und sammelten tausende Einzelbilder aus verschiedenen Perspektiven.Diese wurden rechnerisch zu einem 3D-Modell mit einer Auflösung von etwa 2,8 Ångström zusammengesetzt. Fein genug, um Bindungstaschen, strukturelle Übergänge und Interaktionen verschiedener Süßstoffe zu erkennen. Der Vergleich natürlicher Zucker mit synthetischen Süßstoffen zeigte zudem, warum einige künstliche Varianten deutlich süßer schmecken, aber oft einen unnatürlichen Nachgeschmack erzeugen.

Zentrale Ergebnisse

  1. Mehrere Aktivierungszustände: Der Rezeptor schaltet nicht einfach zwischen „an“ und „aus“. Er kann mehrere Zwischenzustände annehmen, darunter eine neu beschriebene „lockere Konformation", die den Rezeptor nur teilweise aktiviert. Diese Dynamik erklärt, warum der gleiche Rezeptor eine Vielzahl unterschiedlicher süßer Moleküle erkennen kann.

  2. Verschiedene Bindungsmodi: Jedes Süßmolekül bindet auf leicht unterschiedliche Weise an die Rezeptorstellen. Natürliche Zucker wie Glukose passen präziser in die Bindungstaschen, während künstliche Süßstoffe die Struktur des Rezeptors teils verzerren – was zu verändertem Geschmack oder Nachgeschmack führen kann.

  3. Breitere physiologische Funktionen: TAS1R2-TAS1R3-Rezeptoren finden sich nicht nur auf der Zunge, sondern auch in Pankreas, Darm und Gehirn, wo sie die Insulinausschüttung, den Appetit und den Energiehaushalt beeinflussen. Damit rückt die Süßwahrnehmung in direkte Verbindung zu metabolischer Regulation.

  4. Grundlage für gezielte Wirkstoffentwicklung: Die neuen Strukturdaten eröffnen die Möglichkeit einer strukturorientierten Entwicklung von Süßstoffen, die wie Zucker schmecken, ohne Insulin- oder Stoffwechselprozesse negativ zu beeinflussen.

Einschränkungen der Studie

  • Die Strukturen wurden in vitro untersucht, also außerhalb ihrer natürlichen Zellumgebung. In lebenden Geweben können Faktoren wie Membranspannung, pH-Wert oder Zelltyp die Dynamik des Rezeptors beeinflussen.

  • Der Fokus lag auf strukturellen Zuständen, nicht auf der zeitlichen Dynamik der Signalweiterleitung.

  • Die physiologische Rolle von Süßrezeptoren außerhalb der Zunge (etwa im Pankreas oder Gehirn) ist noch nicht vollständig verstanden.

  • Es bleibt offen, ob das gezielte Ansteuern dieser Rezeptoren unerwartete metabolische oder neurologische Effekte hervorrufen könnte.

Relevanz für die Schweiz

In der Schweiz sind rund 10 % der Erwachsenen adipös, und etwa eine halbe Million Menschen leben mit Typ-2-Diabetes. Diese Erkrankungen verursachen erhebliche und wachsende Kosten im Gesundheitssystem, getrieben durch Ernährungsgewohnheiten und hohen Zuckerkonsum.

Die molekulare Aufklärung der Süßwahrnehmung könnte mehrere Folgen haben:

  • Für Forschung und Industrie: Institutionen wie EPFL und ETH Zürich sowie Unternehmen wie Nestlé Research können diese Erkenntnisse nutzen, um gesündere Süßstoffe oder funktionelle Lebensmittel zu entwickeln.

  • Für die öffentliche Gesundheit: Wenn solche Produkte den Zuckerkonsum nachhaltig senken, ohne den Geschmack zu beeinträchtigen, könnten sie zur Prävention von Stoffwechselerkrankungen beitragen.

  • Für Versicherer: Geringere Prävalenzen chronischer Krankheiten würden langfristig die Gesundheitskosten senken und Risikomodelle verändern.

  • Für Regulierung und Politik: Da moderne Süßstoffe gezielt in biologische Prozesse eingreifen, könnten künftig striktere Zulassungs- und Sicherheitsrichtlinien erforderlich werden.


Mögliche Auswirkungen einer erfolgreichen Anwendung

Sollte die entschlüsselte Struktur des Rezeptors tatsächlich die Entwicklung von Molekülen ermöglichen, die wie Zucker schmecken, aber keine negativen Stoffwechseleffekte auslösen, wären folgende Effekte denkbar:

  • Reduktion von Adipositas- und Diabetes-Raten

  • Langfristige Senkung der Gesundheitskosten

  • Wachstum der Food-Tech- und Biotech-Branche in der Schweiz

  • Höhere Akzeptanz zuckerreduzierter Produkte durch besseren Geschmack

  • Neue Erkenntnisse über die Verbindung von Sinnesbiologie und Stoffwechsel


Risiken

  • Unvollständiges Verständnis der Stoffwechselwirkung: Veränderungen der Geschmackssignale könnten Appetit, Belohnungssysteme oder Hormonausschüttung unvorhersehbar beeinflussen.

  • Regulatorische Unsicherheit: Molekular entwickelte Süßstoffe bewegen sich zwischen Lebensmittel- und Arzneimittelrecht, was die Zulassung erschweren kann.

  • Verhaltensanpassung: Konsumentinnen und Konsumenten könnten durch den „gesunden“ Geschmack unbewusst mehr konsumieren und so den Nutzen teilweise aufheben.

  • Wirtschaftliche Verschiebungen: Die Zucker- und Getränkeindustrie müsste sich strukturell an neue Marktbedingungen anpassen.

Gesamtbewertung

Die Studie stellt einen bedeutenden Fortschritt in der strukturellen Sinnesbiologie dar. Sie zeigt erstmals detailliert, wie der Mensch Süße auf molekularer Ebene erkennt, und verbindet Grundlagenforschung mit gesundheitspolitischer Relevanz. Das Potenzial für praktische Anwendungen ist hoch, hängt jedoch von weiterer Validierung in lebenden Systemen und einer sorgfältigen Bewertung möglicher Stoffwechselwirkungen ab.

Ausblick

Zukünftige Forschung wird sich voraussichtlich darauf konzentrieren,

  • nachgelagerte Signalwege in Pankreas- und Darmzellen zu untersuchen,

  • neue Süßmoleküle zu entwickeln, die gezielt bestimmte Rezeptorzustände aktivieren,

  • klinische Studien durchzuführen, um Effekte auf Appetit und Glukosestoffwechsel zu prüfen,

  • sowie ethische und regulatorische Rahmenbedingungen für bioaktive Süßstoffe zu erarbeiten.

Langfristig könnte diese Forschung definieren, wie wir Geschmack, Ernährung und Gesundheit in Einklang bringen – und den Übergang von klassischem Zuckerersatz zu metabolischer Präzision markieren.

Referenz

Shi, Z., Xu, W., Wu, L. et al. Structural and functional characterization of human sweet taste receptor. Nature 645, 801–808 (2025). Link

 
 
 

Kommentare


bottom of page