Humaner Zahnschmelz neu aufgebaut: Die Technologie, die die Zahnmedizin verändern könnte
- Leon Wirz

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Veröffentlicht in Nature Communications (2025), University of Nottingham & International Research Partners

Einleitung
Zahnschmelz ist das härteste Material im menschlichen Körper, und gleichzeitig eines der verletzlichsten. Anders als Knochen kann Zahnschmelz sich nicht selbst regenerieren. Erosion durch Säuren, nächtliches Knirschen oder alltägliche Abnutzung führt zu dauerhaftem Verlust. Die Folgen reichen von Schmerzempfindlichkeit und Karies bis hin zu Infektionen und schließlich Zahnverlust. Weltweit verursachen Zahnerkrankungen jährlich wirtschaftliche Kosten von über 500 Milliarden US-Dollar.
Nun berichten Forschende der University of Nottingham von einem potenziellen Paradigmenwechsel: einem biomimetischen Proteingel, das in der Lage ist, zahnschmelzähnliches Gewebe auf menschlichen Zähnen nachwachsen zu lassen. Die Studie, veröffentlicht in Nature Communications (2025), zeigt, dass eine supramolekulare Proteinmatrix die Mikrostruktur und mechanische Festigkeit natürlichen Zahnschmelzes nachbilden kann – und damit eine künftige regenerative Therapie denkbar macht.
Der Zahn: Was Sie wissen müssen
Ein Zahn besteht aus drei Hauptschichten: Zahnschmelz, Dentin und Pulpa.Der Zahnschmelz – die äußerste Schicht – besteht fast vollständig aus eng gepackten Hydroxylapatit-Kristallen. Seine außergewöhnliche Härte beruht auf einer hochorganisierten Architektur aus parallelen Nanokristallen, die sich zu Prismen und Interprismen anordnen. Darunter liegt das Dentin, ein weiches, kollagenreiches und empfindliches Gewebe mit vielen kleinen Kanälchen.
Entscheidend ist: Zahnschmelz kann sich nicht regenerieren. Die Zellen, die während der Entwicklung Schmelz bilden (Ameloblasten), verschwinden, sobald der Zahn durchbricht. Deshalb werden Schäden heute mit Kompositen, Keramik oder Kronen repariert – Materialien, die jedoch die natürliche Struktur und Langzeitstabilität des Schmelzes nicht vollständig nachahmen können.
Die Nottingham-Studie möchte genau diese Lücke schließen: nicht durch „Flicken“, sondern durch die Wiederherstellung der natürlichen mineralischen Architektur.
Die zentrale Entdeckung
Die Forschenden entwickelten eine supramolekulare Proteinmatrix aus sogenannten elastinähnlichen Rekombinameren (ELRs). Diese Proteine bilden von selbst faserartige Netzwerke, die dem natürlichen Schmelzbildungs-Gerüst während der Zahnentwicklung ähneln. Wird diese Matrix auf geschädigten Zahnschmelz – oder sogar auf vollständig freiliegendes Dentin – aufgetragen, dient sie als Blaupause für das geordnete Wachstum neuer Apatit-Kristalle.
Der entscheidende Durchbruch: Die regenerierte Mineralschicht
wächst epitaktisch (die Kristalle setzen sich direkt vom ursprünglichen Schmelz fort),
reproduziert die korrekte hierarchische Architektur,
stellt die mechanischen Eigenschaften des natürlichen Zahnschmelzes wieder her.
Damit übertrifft diese Methode frühere biomimetische Ansätze deutlich, die oft nur unstrukturierte Mineralablagerungen erzeugten oder nicht die nötige Festigkeit erreichten.
Wie die Studie durchgeführt wurde
Die Forschenden arbeiteten ex vivo mit extrahierten menschlichen Molaren. Um klinische Bedingungen nachzuahmen, wurde der Schmelz zunächst mit Phosphorsäure angeätzt. Anschließend wurde die ELR-Lösung aufgetragen, die innerhalb weniger Minuten einen dünnen, gleichmäßigen Film bildete.
Die Proben wurden dann mehrere Tage lang entweder in einer fluorapatit-übersättigten Lösung oder in künstlichem Speichel inkubiert. Während dieser Zeit steuerte die ELR-Matrix die Nukleation, Ausrichtung und das Wachstum schmelzähnlicher Kristalle. Hochauflösende Verfahren wie SEM, TEM, konfokale Lasermikroskopie und Röntgenstreuung wurden genutzt, um die Struktur zu analysieren.
Um die Funktion zu bewerten, wurden die regenerierten Bereiche mechanisch getestet:
Nanoindentation zur Messung von Härte und Elastizität,
Reibungs- und Verschleißtests,
Bruchtests,
sowie Simulationen von Zahnbürstenabrieb, Kaukraft und Säureangriff.
Die Forschenden untersuchten zudem die Mineralisation in natürlichem menschlichem Speichel, um realistischere Bedingungen zu simulieren.
Zentrale Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen überzeugend, dass die ELR-Matrix sowohl Struktur als auch Funktion des Zahnschmelzes in verschiedenen anatomischen Bereichen wiederherstellen kann.
Rekonstruktion der Schmelzarchitektur
Die regenerierten Schichten reproduzierten:
die aprismatische Oberfläche,
die komplexe Prismen–Interprismen-Struktur tieferer Schichten,
und sogar schmelzähnliche Mineralisierung auf freiliegendem Dentin.
Elektronenmikroskopie bestätigte, dass die neuen Apatit-Kristalle direkt aus dem vorhandenen Gewebe herauswachsen und sich entlang ihrer natürlichen c-Achse ausrichten.
Mechanische Wiederherstellung
Durch Ätzung geschwächter Zahnschmelz zeigte deutlich reduzierte mechanische Eigenschaften. Nach der Remineralisation hingegen:
stieg der Elastizitätsmodul von ~37 GPa auf ~76–81 GPa,
erhöhte sich die Härte auf ~3.1–3.4 GPa – nahezu identisch mit natürlichem Schmelz.
Auch Abriebfestigkeit, Bruchzähigkeit und Reibungskoeffizient näherten sich wieder natürlichen Werten an oder übertrafen diese sogar leicht.
Stabilität unter mundähnlichen Bedingungen
Die neue Schmelzschicht blieb stabil bei Simulationen von jahrelangem Zähneputzen, hohen Kaubelastungen und sowohl kurzfristiger als auch langfristiger Säureexposition. Mineralisation in natürlichem Speichel führte zu ähnlichen Ergebnissen – ein starkes Zeichen für Robustheit.
Limitationen der Studie
Trotz der vielversprechenden Resultate gibt es wesentliche Einschränkungen:
Es handelt sich um rein ex vivo durchgeführte Experimente.
Die regenerierten Schichten waren relativ dünn (2–10 µm).
Der Einfluss des oralen Mikrobioms und der Speichelvariabilität bleibt unklar.
Die langfristige Stabilität und der Abbau der Matrix müssen noch untersucht werden.
Eine klinische Anwendung erfordert umfassende Sicherheits- und Wirksamkeitsstudien.
Trotzdem wurden bisher keine vergleichbar vollständigen Rekonstruktionen des Schmelzes erreicht.
Relevanz für die Schweiz
Die Schweiz zählt zu den Ländern mit den höchsten Zahnbehandlungskosten in Europa, verstärkt durch hohe Selbstzahleranteile und eingeschränkte Versicherungsleistungen. Schmelzerosion, Überempfindlichkeit und frühe Abnutzung betreffen sowohl junge als auch ältere Menschen.
Eine nicht-invasive Regeneration des Zahnschmelzes könnte:
die Anzahl invasiver Behandlungen wie Füllungen und Kronen senken,
langfristige Kosten für Patient:innen reduzieren,
Versicherungsmodelle und Präventionsprogramme verändern,
und Chancen für Schweizer Dentaltechnik-Unternehmen schaffen.
Für ein Gesundheitssystem, das Qualität und Prävention priorisiert, wäre eine solche Technologie potenziell transformativ.
Potenzielle Auswirkungen einer erfolgreichen Therapie
Sollte sich die Methode in klinischen Studien bewähren, könnte die Zahnmedizin einen Wandel von der mechanischen Reparatur hin zur biologischen Regeneration erleben. Frühstadien der Erosion oder Überempfindlichkeit könnten minimalinvasiv behandelt werden, ohne Bohren oder komplexe restaurative Maßnahmen.
Auch Versicherungen würden von niedrigeren Kosten profitieren, insbesondere durch die Reduktion teurer Folgebehandlungen wie Kronen oder Prothesen. Zudem könnte sich ein Markt für vorbeugende Konsument:innenprodukte entwickeln.
Risiken
Es bestehen weiterhin Unsicherheiten:Die Langzeitstabilität im komplexen oralen Umfeld ist ungeklärt. Speichelzusammensetzung, pH-Schwankungen und individuelle Mikrobiome könnten die Wirksamkeit beeinflussen. Allergische Reaktionen auf Matrixbestandteile sind unwahrscheinlich, aber möglich. Eine vorschnelle Einführung ohne ausreichende klinische Daten wäre riskant.
Gesamtbewertung
Diese Studie stellt einen bedeutenden wissenschaftlichen Fortschritt dar. Die Fähigkeit, sowohl die ultrafeine Struktur als auch die mechanischen Eigenschaften des Zahnschmelzes nachzubilden, wurde in dieser Qualität bisher nicht gezeigt. Auch wenn weitere Forschung notwendig ist, deutet das Ergebnis auf ein großes translationales Potenzial hin.
Was als Nächstes kommt
Die nächsten Schritte umfassen:
In-vivo-Studien zur Prüfung der Langzeitstabilität im Mund,
erste Humanstudien insbesondere für Schmelzerosion und Überempfindlichkeit,
Optimierung des klinischen Anwendungsprotokolls,
Untersuchungen zu Sicherheit und Abbauverhalten,
regulatorische Prozesse in UK/EU/CH,
sowie die Bewertung des ökonomischen Nutzens für Versicherungen.
Erfolgreiche Ergebnisse könnten den Weg zur ersten tatsächlich regenerativen Therapie für Zahnschmelz ebnen.
Referenz
Hasan A, Chuvilin A, Van Teijlingen A, Rouco H, Parmenter C, Venturi F, Fay M, Greco G, Pugno NM, Ruben J, Edwards-Gayle CJC, Myers B, Dreveny I, Cowieson N, Winter A, Gamea S, Walboomers XF, Hussain T, Rodríguez-Cabello JC, Rawson F, Tuttle T, Elsharkawy S, Banerjee A, Habelitz S, Mata A. Biomimetic supramolecular protein matrix restores structure and properties of human dental enamel. Nat Commun. 2025 Nov Link




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